**Das späte Erwachen einer Schwiegermutter**
*Als niemand mehr da war, erinnerte sich meine Schwiegermutter an uns. Doch es war zu spät*
Seit über zehn Jahren bin ich mit Ludwig zusammen. Ich habe ihn mit fünfundzwanzig geheiratet. Er ist kein Einzelkind: Er hat zwei ältere Brüder, beide längst etabliert Karrieren, Häuser, Familien. Das perfekte Bild, wie man so sagt. Ihre Mutter, Gisela Bauer, ist eine Frau mit starkem Charakter, nicht die Art, die sich hinter anderen versteckt. Sie hat allein ihre drei Jungen großgezogen, ohne jemals den Kopf hängen zu lassen.
Schon bei unserer Verlobung spürte ich ihre Abneigung gegen mich. Nichts Offenes, aber alles lag in ihren Schweigen bei den Mahlzeiten, ihren Seitenblicken, ihren Versehen. Ich tat, als merkte ich nichts. Vielleicht entsprach ich nicht ihren Erwartungen? Vielleicht wollte sie ihren Jüngsten nicht loslassen?
Denn Ludwig war ihr Halt. Nachdem die Älteren ausgezogen waren, blieb er, um ihr zu helfen: Einkäufe, Arzttermine, Papierkram. Dann kam ich. Und ihr Leben kippte.
Ich versuchte alles, um ihr Herz zu gewinnen. Selbstgekochte Gerichte, Einladungen zu Feiern, sorgfältig ausgesuchte Geschenke. Ich nannte sie sogar Mama, aber das Wort blieb mir im Hals stecken. Sie blieb kühl und distanziert, und ich fühlte mich fremd in dieser Familie.
Als unser Sohn Jonas zur Welt kam, zeigte Gisela sich etwas präsenter. Eine kurze Atempause: Als die Älteren ihr weitere Enkel schenkten, wurde unser Kind unsichtbar. Sie verbrachte Weihnachten bei ihnen, rief sie wöchentlich an, während wir in Vergessenheit gerieten. Das Schlimmste? Sie vergass regelmäßig meinen Geburtstag es sei denn, Ludwig erinnerte sie. Keine Nachricht, keine Karte. Ich litt, dann akzeptierte ich es: Nicht jede hat das Glück, zwei Mütter zu haben.
Die Jahre vergingen. Ein bescheidenes, aber würdevolles Leben. Unsere Tochter Lina wurde geboren. Ludwig arbeitete, ich kümmerte mich um die Kinder. Meine Schwiegermutter schwebte am Rande unseres Daseins dieselbe Distanz, dieselben seltenen Besuche. Wir drängten uns nicht auf.
Vor einem Jahr starb ihr Mann. Der Schock brach sie. Ärzte, Antidepressiva, die Diagnose Altersdepression. Ihre älteren Söhne kamen einmal vorbei, brachten Einkäufe vorbei dann nichts mehr. Wir fuhren zu ihrer Wohnung in Berlin nicht oft, aber öfter als sie.
Dann, Mitte Dezember, lud sie uns zum Heiligabend ein. Ich brauche euch, flüsterte sie. Ich sagte zu, trotz allem. Man lässt einen Menschen nicht im Stich, wenn er schwach ist.
Ich bereitete den Gänseleberpastet zu, richtete den Weihnachtsstollen an, während sie auf dem Sofa seufzte. Kommen Heinrich und Matthias auch?, fragte ich. Sie zuckte die Achseln: Wozu?
Mitternacht näherte sich. Plötzlich richtete sie sich auf: Setzt euch. Ich habe ein Angebot. Ihre Stimme zitterte. Ich bat meine anderen Schwiegertöchter, mich aufzunehmen. Sie lehnten ab. Also zieht hier ein. Im Gegenzug hinterlasse ich euch die Wohnung.
Ein Schock. All die Jahre der Gleichgültigkeit Und jetzt, weil die anderen sie im Stich ließen, wendet sie sich an mich? Als ob eine Berliner Dreizimmerwohnung zwanzig Jahre Kälte ungeschehen machen könnte?
Ludwig versprach, darüber nachzudenken. Im Auto brach ich zusammen. Nicht schreiend, aber mit stockender Stimme:
Hör zu, ich bin keine Heilige. Ich werde nicht mit der Frau leben, die mich wie ein Geist behandelt hat. Die nie eine Schulaufführung ihrer Enkel besuchte. Diese plötzliche Zuneigung Sie hat nur Angst, allein zu sterben. Aber warum sollten wir mit unserem Leben dafür bezahlen, was sie uns verweigerte?
Sie ist meine Mutter, murmelte er.
Eine Mutter tröstet. Sie sortiert nicht ihre Kinder. Sie hat uns aus ihrer Familiengeschichte gestrichen. Jetzt soll sie sich an ihre Favoriten wenden.
Er schwieg. Ich kannte seinen Zwiespalt. Doch er verstand mich.
Wir kehrten nicht mehr in die Friedrichstraße zurück. Ein paar frostige Anrufe. Sie wirft uns ihre Enttäuschung vor. Ich denke: Mit welchem Recht erwartet sie etwas? Dass Zuneigung sich in Quadratmetern erkaufen lässt?
Nein. Würde hat keinen Preis. Wenn du an hellen Tagen nichts bedeutest, werd nicht zum Schutzschild gegen die Dunkelheit.
Es ist keine Rache. Nur die schmerzhafte Erkenntnis, die zu wählen, die auch dich wählen.